Peter Handke ist ebenso sehr ein Geher wie ein Schriftsteller. Wenn er nicht gehen kann, ist ihm auch das Schreiben unmöglich. Die Straße und das leere Stück Papier sind für ihn Schauplätze der Zukunft: Dort wird alles noch einmal beginnen. Auf der ersten Seite von Handkes neuem Stücks Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße steht der programmatische Satz: "Und da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorderhand leer."
Die Straße ist der Urgrund, auf welchem Handkes Fantasie und Erinnerung plastisch werden – wie auf einer Kinoleinwand, die sich unter seinen Füßen erstreckt. Die Straße ist aber auch ein trockenen Fußes begehbarer Fluss, welcher die ganze Weltgeschichte vorbeiwälzt – und auch des Erzählers persönliche Geschichte. Als der "Verderber" Hitler hier durchzog, so berichtet Handkes Protagonist im Stück, habe seine schwangere Mutter vor Schreck Wehen bekommen (Handke selbst wurde 1942 geboren). Und natürlich ist die Straße auch erotisch aufgeladen: Sie wird den Helden irgendwann zu der "Unbekannten" führen, der nie gesehenen Frau seines Lebens.
Einer erschafft sich die Welt, indem er eine Straße erschafft. Das hat Handke schon öfter getan, am schöpfungswütigsten in seinem Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wussten. Damals begegneten sich, aufleuchtend und für immer verschwindend, stumme Unbekannte dort, wo sich viele Straßen kreuzen, auf einem Platz: lauter Szenen der Verheißung, mögliche Anfänge.
In den Unschuldigen herrscht ein anderer Geist. Der Protagonist und Erzähler des Stücks, ICH genannt, weiß von Beginn an alles über alle, die er trifft, und es ist ein vergiftetes Wissen: Er weiß von ihnen, dass sie es nicht wert sind, ihm auf seiner Straße Gesellschaft zu leisten, geschweige denn: ihn zu begleiten.
ICH fühlt sich von den "Unschuldigen" belästigt, welche die Welt beherrschen – schon einer von ihnen reicht, ihn vollständig zu umzingeln; sie alle sind für ihn die allerschlimmsten Täter. Sie zu verfluchen ("Horizonträuber!"), verschafft ihm eine schier erotische Lust, und gern würde er sie auf lange Zeit einfrieren lassen, dann wäre er rechtzeitig tot, ehe sie wieder auftauen. Die Schuld der Unschuldigen wird nie durch Taten manifest – es ist wohl am ehesten das zufriedene Mitlaufen, gesichtslose Dabeisein, stimmlose Mitschnattern von buchstäblich uns allen, das Handke meint.
ICH macht kaum Anstalten, seine Unschuldigen genauer kennenzulernen, er lebt, recht besehen, vom Vorurteil, von den sprichwörtlichen sieben Sekunden, in denen ein Mensch sich ein Urteil über sein Gegenüber bildet und es dann nicht mehr revidiert – ICH macht es sich ein Leben lang in diesen magischen sieben Sekunden gemütlich. "Die Unschuldigen nehmen den Krieg vorweg, sind sein Fleisch und Blut", sagt der Protagonist – und es wirkt fast so, als wünschte er sich diesen Krieg, der seinen Generalverdacht endlich bestätigt. Und bisweilen dringen die Verbrechen, die jene Unschuldigen wohl in ihrem Leben noch begehen werden, als unabgegoltene Schuld an die Oberfläche des Stücks: wenn die "Unbekannte" daran erinnert, dass hier, auf der Landstraße, Menschen ins KZ geschickt wurden, dass dort, am Rand der Landstraße, ein amerikanischer Bomberpilot, abgestürzt nach dem Krieg, von den Bauern gelyncht wurde
Am Wiener Burgtheater hat Claus Peymann, der 78-jährige ehemalige Herr des Hauses, Handkes Stück zur Uraufführung gebracht. Wien empfing ihn mit allen paramilitärischen Ehren: Jubel, glückliche Präsentation alter Wunden, schön war’s damals! Die Zipfel gleich mehrerer Mäntel der Geschichte wehten über die Stadt – zuallererst der politischen Geschichte, denn Peymann gegen Wien: das war eine permanente Schlacht um Autorität, Stolz, historische Schuld und Wahrheit. Dann aber auch der Theatergeschichte: denn dieses Duo – Peymann/Handke – hat insgesamt zehn Stücke zur Uraufführung gebracht, fünf davon an der Burg. Das Urstück, welches die beiden, Handke und Peymann, für alle Zeiten zusammenschweißte, auch wenn sie seitdem in konstantem Streit leben, war, vor 50 Jahren, am Frankfurter Theater am Turm, diePublikumsbeschimpfung – von heute aus gesehen fast ein Rap-Abend, eine swingende Suada, die zuversichtliche, auf Eklat fröhlich hingebürstete Beleidigung und Aufstachlung des Publikums: ein Aufbruch. Der Schlussapplaus ist auf YouTube zu sehen: Handke, 24, steht in Jubel und Buhs wie der fünfte Beatle, ein Popstar, der sein Publikum, die Unschuldigen von damals, mit wilden Gesten zu Zugabengebrüll stimuliert. Auch das Stück Die Unschuldigen … geizt, 50 Jahre später, nicht mit Beschimpfung, Fluch, Verwünschung, aber es hat das Vergeblich-Wehmütige eines Abschieds. Der Protagonist spürt nun vor allem die Rückstöße seiner Wut. Zelebriert wird die Abdankung eines königlichen Wutnickels: ein letzter Fluch, bevor ich gehe.
Der für Handkes Schreiben (und wohl auch für seine Person) entscheidende Konflikt zwischen liebender Weltanschauuung und zorniger Weltabscheu ist der Motor des Stücks: Man hört sein Dröhnen und Brausen in den Worten seines Protagonisten. Leider wird dieser Motor von Peymanns Inszenierung so brutal gedrosselt, dass er nur noch wimmert. Aus der Darstellung innerer Kämpfe wird fahle Illustration. Handkes Suaden, die vom Verlust einer Welt handeln, sind nun, auf der Burg-Bühne, nichts anderes als Klagen darüber, dass es nicht mehr so sei, wie es angeblich mal war: Wo früher Geselligkeit war, stehen heute blinde Handy-Idioten am Wegrand. Wo früher Bildung den Menschen Freiheit verschaffte, da dient Bildung dem Deppen von heute dazu, es in Quiz-Situationen möglichst weit zu bringen. Die allgemeine Banalisierung, Verflachung, die die Inszenierung beklagt, vollzieht sie selbst: an diesem Stück, das sie so halb uraufführt.
Nichts wirkt inspiriert, von spielerischem Überschuss getrieben: Karl-Ernst Herrmann, der große Bühnenerfinder, der an dieser Stelle vor 26 Jahren für Handkes und Peymanns Spiel vom Fragen eine wunderbare, sich allmählich ins Hinterland schraubende Straße gebaut hatte, wirft uns nun bloß eine kahle, leere Kurve auf schiefer Ebene als Spielort hin. Der Regisseur lässt darüber einen Trupp von Spitzweg-Buben und Kabarettkomparsen biedermeierhaft sich hinwegkräuseln – ein von Geburt an zusammengestauchtes, mut- und sprachloses Komfortgesindel. Und Peymanns Hauptdarsteller, Christopher Nell? Dass dies ein alter Schriftsteller ist, der seine Lebens- und Schreibwege noch einmal geht, ist ihm nicht zu glauben. Nell ist eher ein Morgenmensch, zutraulich der Schöpfung und uns gegenüber: Er tappt zur Rampe wie ein Wesen, das gefüttert und gestreichelt werden möchte, gut genährt mit Zuneigung und funkelnden Sinneseindrücken, fast verwöhnt. Ein hellstimmiger Gesell, getrieben von dem Jubilierzwang eines Vagabunden aus einem alten deutschen Heimatfilm.
Größtes Problem der Inszenierung: Es ist beim großzügigen Streichen von Text die Struktur des ganzen Stücks verloren gegangen. Die Unschuldigen … besteht einerseits aus laut zu sprechenden Passagen (vor allem Monologen), andererseits aber aus nach innen geflüstertem beziehungsweise gedachtem Weltkommentar, Ich-Kommentar: So vehement der Protagonist nach außen flucht und schäumt, so skrupulös notiert er in seinem Inneren, was geschieht, geschah, geschehen könnte. Dieses innere ICH ist wie ein Gebüsch, worin einer sich am Rand seiner Straße vor der Welt, die er angeblich verachtet, sehr wachsam verbirgt: kein Heckenschütze, sondern eigentlich ein Hecken-Denker. An diesem Gegensatz der Sprechweisen, dieser Aufspaltung in den dramatischen Rappelkopf und den allerzartesten, lupenfeinsten Weltbetrachter, scheitert die Aufführung: Ihm hält sie nicht stand, ihn verleugnet sie schlicht.
Irgendwann im Stück verrät Handkes Protagonist, warum er die Landstraße liebt: weil sie ihm das Gefühl gibt, jetzt keinesfalls sterben zu müssen. "Noch keinmal", heißt es da, "habe ich im Landstraßenwind den Totenschädel an mir gespürt, im Gegenteil." Mark Twain hat das alles einmal, sachlich amerikanisch, so formuliert: "Es ist leichter, draußen zu bleiben, als nach draußen zu gehen." Draußen zu bleiben – das ist Handkes Weg und der seines Helden. In dieser Inszenierung hat man leider nie den Eindruck gehabt, je draußen gewesen zu sein.
Auf dem Weg vom Burgtheater zum Hotel, kein Witz, kam der Rezensent nachts in der Josefstadt noch an einem Schießkino vorbei. Was ist ein Schießkino? Es ist ein lang gezogener schalldichter Raum, in dem man die Jagd auf bewegliche Ziele – "vom Fuchs bis zum Wasserbüffel" – trainieren kann. Der Schütze steht am einen Ende des Raums und feuert auf Objekte, die auf einer Leinwand am anderen Ende vorbeiziehen. Er darf sich als Überlebender und als letzter Gerechter fühlen, ohne irgendjemanden getroffen zu haben. Genau so hatte man diesen Abend im Burgtheater erlebt: als wäre man ins größte Schießkino Wiens geraten.
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