Was haben wir denn hier? Ein Gestrichel. Ein Gekritzel. Wahrscheinlich die Zeichnung eines Kindes. Vielleicht auch eine Botschaft vom anderen Stern oder aus der Niemandsbucht. Oder eine Höhlenzeichnung aus dem alten Kärnten.
Und was zeigt uns das Gestrichelte? Links etwas Fliegendes, Vogel oder Drache. Rechts, auf einem Podest, eine Figur mit Kopf. Und je länger man den Kopf betrachtet, desto bekannter schaut er zurück. Wenn nicht alle Zeichen trügen, ist dies ein Dichterkopf: ein Portrait des Dichters Peter Handke.
Peter Handke hat ein neues Theaterstück geschrieben. Ein "Königsdrama" mit dem etwas strapaziös klingenden Titel "Zurüstungen für die Unsterblichkeit". Natürlich wartet der Handke-Leser, Handke-Jünger nicht, bis es endlich zur Uraufführung kommt. Er verschafft sich, so schnell er nur kann, die Buchausgabe des Königsdramas (Suhrkamp). Und erblickt, so also fängt die Begegnung mit Handkes "Unsterblichkeit" an, auf dem Buchumschlag das geheimnisvolle Gekritzel. Und der Handke-Leser freut sich. Schon wieder freut er sich! Aber nicht lange. Denn nun muß das Buch aufgeschlagen, der ersten Szene furchtlos entgegengegangen werden.
Der Großvater oder auch Ahnherr spricht. Und er spricht so, wie auf deutschen Brettern lange keiner mehr gesprochen hat; weil eben keiner mehr sich heutzutage traut, "Königsdramen" zu dichten. Außer natürlich Peter Handke.
Der Großvater oder auch Ahnherr also spricht die ersten Worte des Dramas, und sie heißen: "Rache! Rache? Gerechtigkeit!" So spricht der Großvater. Und der Handke-Leser erschaudert. Oder er denkt, wenn er Glück hat, sogleich an Mozarts Priester Sarastro: "In diesen heilgen Hallen / kennt man die Rache nicht." Köchelverzeichnis 620.
Die Kinderzeichnung: wortloses Glück. Nun aber die Rede des sterbenden Großvaters: ein großmächtiges Wortgeschepper. "Fast nackt" ist der Alte, wie König Lear auf der Heide, und seine Rede ist Vision und Lallen zugleich. Von der "Sonnenzeit" tönt er, vom "starken Frieden", vom "erfrischenden Ernst". Kühn und berauscht wirken seine Worte, aber im selben Moment geziert und gequält. Die Sprache der Königsdramen ist uns verlorengegangen, und man sieht Handkes Sätzen an, wie nun das Verlorene gewaltsam wiederhergestellt, herbeigezwungen werden muß.

Natürlich ist so ein sterbender Großvater oder auch Ahnherr eine ernste Sache - aber ein bißchen drollig ist es schon, wie der tragische Alte die Worte türmt, würgt, ineinanderstaucht. Als belebe ihn noch die altösterreichische Wortspiel-Wollust eines Nestroy oder auch Bernhard oder gar Schwab - die freilich nun, in der einschüchternden Umgebung des Königsdramas, von heiliger Erstarrung, priesterlicher Verfinsterung ergriffen wird.
Der Handke-Leser fürchtet sich. Schon wieder fürchtet er sich! Aber nicht lange. Denn nachdem der Alte mit einem überraschenden Fluch ("Lecke Welt! Leckt mich, alle!") dahingegangen ist, beginnt die zweite Szene des Dramas.
Und auf den Krampf folgt die Herrlichkeit.
Die beiden Töchter des Alten, die dem Monolog des Ahnherrn hochschwanger beigewohnt hatten, erzählen nun von der Geburt ihrer Söhne. Die erste Schwester hat den Pablo Vega geboren, die zweite Schwester den Felipe Vega, beide in der nämlichen Stunde, wie es sich für ein Märchen gehört.
Zweimal, sagt die erste Schwester, sei sie vergewaltigt worden: vom Vater des Kindes bei der Zeugung, vom Kind bei der Geburt. Doch ihr Kind sei ein "Prinz", ein "Star": "Wie besonders fand ihn gleich jeder. Welch Grazie! Welch Hoheit!"
Die zweite Schwester hat ein ganz anderes Kind geboren: Kind der Liebe, aber Schwächling. Kein Held, ein Krüppel, ein "Nichtsling" - aber ein Wunderkind der Freundlichkeit. "Der erste aus unserem Stamm, der so lachen kann. Wir sind doch seit je bekannt als die mit den zugenähten Mündern."
Eine einzige Zumutung, dachte der Handke-Leser, als ihn der Ahnherr bedröhnte. Eine wirkliche Dichtung, denkt er nun, den Hexenschwestern lauschend. Und freut sich. Doch irgendwann ist die Zeit des Lesens zu Ende, und das Königsdrama muß aufs Theater kommen. Claus Peymann, wer sonst, hat inszeniert, im Wiener Burgtheater, wo auch anders. 8. Februar, 18.30 Uhr.