Großes Weltengetümmel auf wenigen Quadratmetern
„Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ in einer Inszenierung von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper überzeugte nicht nur durch eine gigantomanische Anzahl von lebendigen Charakteren. Einen wesentlichen Part übernahm auch die Musik, die am Schluss der Aufführung noch mit einem Überraschungseffekt aufwartete.
Sie laufen, und laufen und laufen. Von links nach rechts, von rechts nach links. Alte, Junge, Demente, Fröhliche, Traurige, Verrückte. Sie tragen Aktenkoffer und schieben Geh-Hilfen, sie fahren Rad und rutschen immer wieder am glatten Parkett aus. Sie küssen sich, sich schlagen sich, sie umarmen sich und sie bleiben alleine. „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, Peter Handkes hypertropher und zugleich stummer Text wurde drei Mal am Theater an der Wien im Rahmen der Wiener Festwochen aufgeführt. Das estnische Regie-Duo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper zeigte seine Interpretation jenes Werkes, das seine Welturaufführung 1992 ebenfalls im Theater an der Wien erfuhr. Regisseur war damals Claus Peymann.
Die beiden ersten Sätze des Textes werden bei Ojasoo und Semper auf die 17 Meter breite Bühne projiziert. „Die Bühne ist ein freier Platz im hellen Licht. Es beginnt damit, daß einer schnell über ihn wegläuft.“ Kaum gelesen, ertönt eine hohe Männerstimme aus dem Parkett. Hell und klar, aber raumfüllend tönt es durch den Saal. Lars Wittershagen ist dafür bekannt, Musik ausschließlich fürs Theater zu schreiben, wie auch für diese Aufführung. Der Text, der ihr unterlegt ist, stammt von Handke. Der einen Stimme werden im Laufe des Abends weitere folgen, insgesamt 16. Aber bis alle ertönen dürfen, dauert es eine Weile. Nach und nach gesellen sie sich zur ersten, ergänzen schließlich bin in den Bass alle Register. Rezitatorisch angelegt, werden immer nur wenige Sätze gesungen. Es sind minimale Regieanweisungen. Zusätzlich wird das Geschehen auf der Bühne über lange Strecken von elektronischer Musik begleitet, die sich Szenen anpasst und zeitweise Wohlklang mit irritierenden Tönen vermischt .
Don´t try to please me
Handke beim Wort nehmen und Handke mit eigenen Assoziationen neu denken, beides liefern die beiden Esten hier ab. „Seit der Entstehung des Stückes sind schon viele Jahre vergangen. Ich habe beim Lesen heute andere Assoziationen als der Autor sie bei einzelnen Szenen hatte. Aber wir hatten das Glück, dass uns Handke auf unsere Anfrage einen Brief schrieb mit dem Wortlauft: „Don´t try to please me“ erzählte Ene-Liis Semper im Publikumsgespräch.
Und tatsächlich prasselt an einer Stelle Regen, zumindest auditiv hernieder, erfreuen sich die Menschen daran, laufen davon – bei Handke bleibt alles stets im Trockenen. Da wird schon einmal ein Laptop angebetet und Kolonnen von Entlassenen schleppen ihre kleinen Kartons, in denen sich ihr Hab und Gut befindet, das einst in ihren Schreibtischen lagerte. Und dennoch ist das Stück kein allzu zeitgeistiges geworden. Es fehlen Alltagsattribute wie die überall und permanent präsenten Handys. Kein Platz würde sich heute ohne diese elektronischen Gadgets rühmen, ein wirklicher Platz zu sein.
Alles Schöne ist schief",
sagt die draußen affichierte Werbung. Und: "Wir sind ein Schatten deiner
selbst." Im Foyer des Thalia Theaters in Hamburg wird diskutiert. Ist
ein Stück ohne Worte schon ein Stück? Die Frage ist ein Klassiker,
bezogen auf "Die Stunde da wir nichts voneinander wußten".
Keine Dialoge, nur Spielanweisungen für Schauspieler gab Peter Handke für seine bei den Wiener Festwochen 1992 uraufgeführte Beschreibung des Treibens auf einem europäischen Platz. Flüchtige, oft skurrile Momentaufnahmen. Denn Handke sagt nicht viel mehr als: Jemand geht von irgendwo nach irgendwohin.
Das estnische Regie-Duo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper hat in seiner bei der Premiere am Donnerstag heftig akklamierten Version – ab 21. Mai bei den Wiener Festwochen im Theater an der Wien – jeden Augenblick mit sehr heutigen Bildern gefüllt und eine choreografische Maschine entwickelt, die das Allgemeine, mitunter Banale zum Besonderen stilisiert.
135 Minuten nonstop ein Bilderschwall. Ein Mosaik zum Teil starker Szenen. Ohne Worte, abgesehen von sparsamen Gesangs- und Choreinlagen, aber körpersprachlich beredt. Menschen gehen, schlendern, laufen, springen scheinbar ziel- und gedankenlos über die Bühne. Zuerst graumausig vor einer grauen Wand, später kommt in immer neuen Situationen auch optisch Farbe ins bunte Treiben.
Mehr als zwei Dutzend Darsteller spielen gefühlte 200 Figuren, Verrückte und Normale. Menschen verschiedener Ethnien und Religionen und mit unterschiedlichen sexuellen Vorlieben. Alle, die da kommen und gehen, geben in ihrem oft sinnentleerten Aktionismus und erstarrten Ritualen ein absurd-komisches, jedenfalls irritierendes Bild ab.
Ihren Auftritt haben u. a. ein Angler mit einem Fisch in der Hand. Obdachlose mit ihrer Habe im Kinderwagen oder Einkaufswagerl. Ein Rotkäppchen, Sisyphos, ein Mann mit goldener Kugel und Leuchtschnur ... Vertraut aus der Alltagswelt: eine geschniegelte Airline-Crew, hyperventilierende Girlies, Straßenkehrer, ein Tanz der einsamen Herzen ... Aber auch viel Verrätseltes, Mythisches, Archaisches bleibt unaufgelöst oder ist als Startrampe für Träumereien und Assoziationen gedacht.
Das meiste ist gegen den Zeit-un-geist des schnellen Schnitts gebürstet. Aber manches wird auch zur harten Geduldprobe, wenn sich die Performance zwischendurch immer wieder zur Superzeitlupe verlangsamt, wenn gebückte Frauen in Schwarz – stumme Klageweiber – die Bühne queren.
Das Stück? Das sind die Bilder und was sie in den – hoffentlich nicht leeren – Köpfen der Zuseher erzeugen. Und sie erzählen eine Tragikomödie der Menschen.
KURIER-Wertung:
Keine Dialoge, nur Spielanweisungen für Schauspieler gab Peter Handke für seine bei den Wiener Festwochen 1992 uraufgeführte Beschreibung des Treibens auf einem europäischen Platz. Flüchtige, oft skurrile Momentaufnahmen. Denn Handke sagt nicht viel mehr als: Jemand geht von irgendwo nach irgendwohin.
Ein leeres Stück
Das estnische Regie-Duo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper hat in seiner bei der Premiere am Donnerstag heftig akklamierten Version – ab 21. Mai bei den Wiener Festwochen im Theater an der Wien – jeden Augenblick mit sehr heutigen Bildern gefüllt und eine choreografische Maschine entwickelt, die das Allgemeine, mitunter Banale zum Besonderen stilisiert.
135 Minuten nonstop ein Bilderschwall. Ein Mosaik zum Teil starker Szenen. Ohne Worte, abgesehen von sparsamen Gesangs- und Choreinlagen, aber körpersprachlich beredt. Menschen gehen, schlendern, laufen, springen scheinbar ziel- und gedankenlos über die Bühne. Zuerst graumausig vor einer grauen Wand, später kommt in immer neuen Situationen auch optisch Farbe ins bunte Treiben.
Mehr als zwei Dutzend Darsteller spielen gefühlte 200 Figuren, Verrückte und Normale. Menschen verschiedener Ethnien und Religionen und mit unterschiedlichen sexuellen Vorlieben. Alle, die da kommen und gehen, geben in ihrem oft sinnentleerten Aktionismus und erstarrten Ritualen ein absurd-komisches, jedenfalls irritierendes Bild ab.
Zahllose Passanten
Ihren Auftritt haben u. a. ein Angler mit einem Fisch in der Hand. Obdachlose mit ihrer Habe im Kinderwagen oder Einkaufswagerl. Ein Rotkäppchen, Sisyphos, ein Mann mit goldener Kugel und Leuchtschnur ... Vertraut aus der Alltagswelt: eine geschniegelte Airline-Crew, hyperventilierende Girlies, Straßenkehrer, ein Tanz der einsamen Herzen ... Aber auch viel Verrätseltes, Mythisches, Archaisches bleibt unaufgelöst oder ist als Startrampe für Träumereien und Assoziationen gedacht.
Das meiste ist gegen den Zeit-un-geist des schnellen Schnitts gebürstet. Aber manches wird auch zur harten Geduldprobe, wenn sich die Performance zwischendurch immer wieder zur Superzeitlupe verlangsamt, wenn gebückte Frauen in Schwarz – stumme Klageweiber – die Bühne queren.
Das Stück? Das sind die Bilder und was sie in den – hoffentlich nicht leeren – Köpfen der Zuseher erzeugen. Und sie erzählen eine Tragikomödie der Menschen.
KURIER-Wertung:
http://derstandard.at/2000015156146/Handkes-Piazza-muss-nicht-nur-in-Tallinn-sein
Handkes Piazza muss nicht nur in Tallinn sein
1. Mai 2015, 17:30
Ein Update von Peter Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" im Hamburger Thalia Theater fügt dem Stück nicht viel Neues hinzu. Ab 21. Mai läuft die Aufführung bei den Festwochen.
In Peter Handkes Schauspiel Die Stunde da wir nichts voneinander wussten befreit sich das Theater von einer schweren Last. Gezeigt werden keine Figuren, sondern Typen, die sich ganz auf ihr stummes Tun konzentrieren. Der Schauplatz ist "ein freier Platz im hellen Licht".Der Platz ist wunderbar genau gezeichnet und umschließt doch die ganze Welt. Winde blasen über ihn hin, was famos zum Aufführungsort Hamburg passt. Donner rollen, und manchmal mischen sich sogar mythologische Figuren in das Gewirr der Phantome. Als Freilufttheater ist Handkes Piazza republikanisch, insofern sie Menschen aus völlig unterschiedlichen Klassen und Regionen Quartier gewährt. Wenn auch jeweils kurz. Handkes Schau-Platz ist ein Transitort. Wer ihn quert, tut es in dem sicheren Bewusstsein, ihn bald wieder verlassen zu dürfen.
Jetzt, 23 Jahre nach der Uraufführung, hat man diesen herrlichsten Nicht-Ort der Welt im Hamburger Thalia Theater neu verlegt. Er ist auch nicht allein hamburgisch. Für seine Bespielung zuständig erklärt hat sich das estnische Regie- und Ausstattungspaar Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper. Ihr Versuch, die verblassten Schemen neu zu beleben, wird ab 21. Mai im Rahmen der Festwochen im Theater an der Wien zu bestaunen sein.
Von Handke höchstselbst haben die beiden Gründer des Teaters NO99 die Erlaubnis erwirkt, das Konzept der Platzbeschau ins Heute herüberzudehnen. Es hat sich einiges verändert seit 1992. Nicht nur in Tallinn wird man Zeuge der Neuordnung unserer Gesellschaften.
Süßer Trost der Musik
Hinzugefügt haben sie auf jeden Fall die Tröstung durch die Musik. Ein Countertenor singt mit zuckersüßem Melos szenische Anweisungen. Vor einer grauen Betonmauer huschen die ersten Passanten vorüber. Es herrscht "Rushhour". Die Zuträger des Kapitalismus hetzen so geschäftig über den Platz, als müssten sie allein durch ihr Schritttempo Unabkömmlichkeit demonstrieren. Ojasoo/Sempers Konzept lässt sich am ehesten als physikalische Versuchsanordnung begreifen.Während im ersten Drittel noch das Bild einer belebten Straße vorherrscht, weitet sich das Spiel recht bald aus. In den Blick rücken die Wohlstandsverlierer. Unterstandslose schieben ihre Habe in Einkaufswagen vorüber. Eine verstockte Alte, die an der Wand einschaut, entpuppt sich als Diebin von billigen Textilien. Eine kommunale Reinigungskraft schiebt die deklassierte Person mit dem Besen von der Bühne.
Was an der fast zweieinhalbstündigen Aufführung dann doch verblüfft, ist der Witzzwang, unter dem sie steht. In Handkes Text kommt es zu allerlei Kollisionen. Menschen treffen aufeinander, ohne der jeweiligen Begegnung ganz gewachsen zu sein. Wunderschöne Frauen stöckeln durch dieses Panoptikum. Jede Einzelne von ihnen scheint, um es mit Romy-Preisträger André Heller auszudrücken, "verwunschen". Hier, im Update anno 2015, sieht man vor allem – zauberhafte – Darstellungsbeamte bei der Arbeit. Die est nischen Künstler haben der Stunde da wir nichts ... die verquere Handke-Poesie doch recht gründlich ausgetrieben. Man freut sich über nährstoffreiche Ergänzungen des Bildervorrats. Und doch wird man den Eindruck nicht los, Ojasoo/Semper hätten erstbeste Einfälle in stummes Handeln übersetzt.
Die Erweiterung unserer Gesellschaft mit den Mitteln der Multikulturalität ist die entscheidende Zubuße gegenüber 1992. Vollends unverständlich bleibt es daher, wenn man die Integrationsschicksale schwarzer Migranten zum Zweck der Pointenmaximierung missbraucht. Ebenso unpräzise ist es, die dringend gebotene Koexistenz der Konfessionen platt zu bewerben – wenn zum jüdischen Gebet an der Klagemauer der Ruf des Muezzins erschallt.
Man hält sich lieber an die sicheren Lacher. Versehrte und Alte werden einem beinharten Casting unterworfen, einem Rollstuhlfahrer wird der beste Blowjob seines Lebens beschert. Das ist alles liebenswürdig gemeint. Und liegt doch ein paar Meter von Peter Handkes Paralleluniversum entfernt. In den Schlussjubel mischten sich vereinzelte Buhrufe. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 2./3.5.2015)
Die Reise erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen. Der Vorverkauf an den Kassen startet Samstag.
www.festwochen.at
www.festwochen.at
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/peter-handke-die-stunde-da-wir-nichts-voneinander-wussten-a-1031653.html
S
o ist das Leben! Ist es so? Das Schöne an Peter Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" sind die vielen Menschen-Bilder und oft rasend kurzen Szenen, aus denen sich jeder seine Essenz vom Dasein picken kann. Das ist Schau-Spielen in seiner pursten Form, getanzt, gekeucht, gelacht, geschrien, nur ohne Worte.
Was sich Peter Handke vor über 20 Jahren ausgedacht hatte und dann 1992 in Wien unter Claus Peymanns Regie uraufgeführt wurde, sollte ja als Thema zeitlos sein. Am Hamburger Thalia Theater hat sich jetzt das estnische Regie-Duo Ene-Liis Semper und Tiit Ojaso Handkes Stück vorgenommen und dabei entscheidend eingegriffen.
Hatte der große Jürgen Gosch (1943-2009) am selben Ort vor zwei Dekaden nur etwas über eine Stunde für seine Version benötigt, so dehnten Semper und Ojaso das Werk auf satte zweieinhalb Stunden. Kein Wunder, das Sujet verführt dazu.
Ort des Spiels ist ein fiktiver Platz in Europa, auf dem sich Menschen, die sich nicht kennen, in kurzen und längeren Momenten begegnen, Paare/Passanten, stereotype Situationen, erkennbare Gruppen wie Geschäftsleute oder Piloten, dazu amorphe Massen oder markante Figuren. Mit dieser Grundidee kann man trefflich spielen, und die Regisseure holten sich sicherheitshalber vom Meister Handke die Erlaubnis, das Muster seiner detaillierten Regieanweisungen ein wenig dehnen zu dürfen. Man weiß ja, dass Autoren oder deren Erben bezüglich ihrer Werke zickig sein können. Handke hatte nichts gegen gewisse Aktualisierungen, zumal die Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts inzwischen wirklich etwas patiniert sind.
Erleuchtung inklusive
Zunächst bekam der Platz eine mächtige bewegliche und dramaturgisch akzentuierende Mauer, die ein wenig an Dimiter Gotscheffs Gebäude in der legendären Berliner Inszenierung der "Perser" erinnerte. Klar, dass selbiges Bauwerk später zur Klagemauer mutierte, am Ende der Inszenierung gar zur Paradiespforte inklusive buchstäblicher Erleuchtung, Vertreibungsszene und Auftritt von Gottvater, Sohn sowie Maria und Joseph.
Alles ist in dieser Handke-Afri-Cola, sogar ein wenig seliger Hippie-Schmu. Diese Erweiterungen zerrten etwas an den Nerven, zumal sie einzelnen Szenen (tanzende Soldaten in Tarnanzügen) arg an Regietheater-Urstanzen erinnerten. Und der Idee der Aktualisierung, die sich gerade bei Kriegsthemen derzeit anbietet, etwas entgegenlief. So blieb Manches im Ungefähren und führte zu vermeidbaren Längen.
So ganz ohne Texte ging es dann doch nicht ab. Die aber waren gesungen, von einem großartigen Chor, wie aus einem Oratorium. Peter Handkes Regieanweisungen zu seiner Großpantomime "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" erklangen gleich zu Anfang. Unterstützt von sehr abwechslungsreicher Bühnenmusik (Lars Wittershagen) begleitete dieser Chor, effektvoll als Besucher in Parkett und Rang platziert, die Handlung, sorgte für kräftige emotionalisierte Akzente, manchmal kitschig, immer effektvoll und am Schluss, als die Bewegung auf der Bühne erstarrte, gar als quasireligiöse Überhöhung.
Ein Tick zu viel für manche im Publikum, aber in dieser pathetischen Inszenierung doch konsequent. So ist es eben, das Leben, nicht immer geschmackvoll, aber oft prallvoll.
also see: http://blog.zeit.de/hamburg-veranstaltungen/2015/04/26/peter-handke_9640
Foto: Oliver Proske
BÜHNEPeter Handke
Sein Stück "Die Stunde da wir zu viel voneinander wussten" wird mit sich selbst verglichen – Part 1 auf Kampnagel (K6).
Der Titel Die Stunde da wir nichts voneinander wusstenerscheint geradezu programmatisch. Besteht Peter Handkes Stück doch "nur" aus 60 Seiten Nebentext für zwölf Schauspieler, die er in wechselnden Rollen in einem endlosen Reigen von meist absurd überzeichneten Alltagsszenen stumm über einen lichten Platz flanieren lässt. Dies allerdings in einer so überbordenden Reichhaltigkeit von Details, dass die Fülle der Leben und Schicksale dahinter schier überwältigt. Gesprochen wird nicht, dafür aber unentwegt kommuniziert ... oder?! Jetzt bietet sich die seltene Gelegenheit, diese Frage an zwei unterschiedlichen Versionen zu überprüfen. Am Thalia Theater inszenieren die estnischen Regisseure Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper Handkes Stück als ebenso verstörende wie poetische europäische Utopie. Auf Kampnagel variiert es das Berliner Theaterensemble Nico and the Navigators in Die Stunde da wir zu viel voneinander wussten als Folie medialer Überforderung und kommunikativen Scheiterns.
Text: Reimar Biedermann
stuttgart, 18.02.2012
Bunga bunga
„Platzregen / Eine Entfernung zu Peter Handke“ uraufgeführt im Theaterhaus Stuttgart
Jule Flierl in "Platzregen/ Eine Entfernung zu Peter Handke" . Foto © Schestag
Die jüngste Produktion des gut eingespielten Männertrios − Fabian Chyle (Konzeption und Choreografie), Festivalleiter Hans-Peter Jahn (Konzeption und Dramaturgie) und Bühnenbildner Adrian Silvestri (Bühne, Ausstattung und Grafik) – widmet sich, mit Bezug zu Peter Handkes „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“, dem Platz als öffentlichem Ort. „Platzregen / Eine Entfernung zu Peter Handke“ titelt die Performance, die beim „Eclat“-Festival Neue Musik im Theaterhaus Stuttgart erstmal gezeigt wurde.
Den Soundtrack zur Uraufführung hat Alvaro Carlevaro geliefert. Der Komponist mit uruguayischen Wurzeln hat aus Handkes Text die Adjektive herausgefiltert und im Vokalstück „14 unbemalte Bilder für 28 Stimmen“ zu einem formalästhetischen Klanggewebe verarbeitet, das als musikalische Klammer der Tanzversion dient. Chyle, Jahn und Silvestri, berüchtigt für ausufernde Ideen-Vielfalt, breiten zum Tonbandzuspiel eine Menge Material aus: Eingetopfte Zierbäumchen, ein Bretterverschlag, Riesenventilatoren, hunderte Säcke Blumenerde, eine Plastikpuppe (verkleidet als Doppelgängerin einer Tänzerin), Megafone, mehrere Jalousien (auf einer das Bild des Tahir-Platzes), eine Schubkarre, eine Messlatte, die Kopie einer dieser antiken Skulpturen-Imitate aus dem Gartencenter, sowie Flaggen und Fähnchen unterschiedlichster Länder, Couleurs und Größen.
Als wären es der Gegenstände samt Anspielungen, Ausdeutungen und Symboliken nicht genug, werden noch fünf veritable Fahnenschwenker in den Warenkorb gepackt, die in mittelalterlicher Tracht einmarschieren, einen Kurzauftritt liefern und abtreten. Zudem taucht wiederholt eine stumme Figur in schwarzer Burka auf, die sich (wer hätte es nicht vermutet?!) als Mann entpuppt.
Die sieben Tänzerinnen und Tänzer (Angelina Deck, Jule Flierl, Tereza Lenerova, Claudia Senoner, Anders Kallesoe Jensen, Andre Soares, Karol Tyminski) haben alle Hände voll zu tun. Auf- und überdreht wie Roboter auf Speed wird eine Schubkarre hin- und her gekarrt, am Mast wird masturbiert und die Plastikpuppe wird zum Objekt, an dem sich aggressiver Stau und sexuelles Bedürfnis entladen. Die Plastiksäcke mit Blumenerde werden zu einem großen Feld ausgelegt, darüber wird ein Steg aus Brettern gebaut, auf dem, wie im Film, eine Vergewaltigung gespielt (oder geprobt), abgebrochen und wiederholt wird.
„Ich möchte lieber ahnen statt wissen. Sprache ist ja in aller Regel zerstörerisch. Wenn sie nicht den richtigen Augenblick findet, zerstört sie das Ungesagte.“, so Peter Handke, der mit „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ ein Theaterstück ohne Dialoge geschrieben hat. Hauptakteur des Stücks ist ein Platz, der realen Charakter hat, zugleich aber ein beliebiger Platz irgendwo sein kann. Ein Dutzend stummer Akteure spielen Alltägliches, begegnen einander, helfen sich gegenseitig, behindern sich, schließen sich zu Gruppen zusammen und lösen sie wieder auf. Obwohl sich die Begegnungen intensivieren, hat das Welttheater nicht den Anschein, als würde da ein Volk zusammenwachsen.
"Platzregen/ Eine Entfernung zu Peter Handke" im Theaterhaus Stuttgart. Foto © Sigmund
Während sich die Handlung bei Handke dramaturgisch entwickelt, tritt das Stück „Platzregen“ auf der Stelle. Im Vorfeld zum Festival-Höhepunkt stilisiert, haben sich die drei Musketiere Chyle, Jahn und Silvestri den „Eclat“ auf die Fahne geschrieben und reiten mit wachsender Begeisterung auf der vermeintlich provokativen Antithese zu Handke herum. Ist das Stück bei ihm einzig Regieanweisung, verzichten Chyle, Jahn und Silvestri explizit auf Regie. Konzentriert sich Handke auf den Platz im Allgemeinen, suggeriert die Wahl der Gegenstände einen speziellen Platz. Versucht sich Handke in Reduktion, veranstaltet die Inszenierung eine Materialschlacht. Schließlich wird statt Schweigen den Protagonisten Geschwätzigkeit verordnet. Körpersprachlich wird selten interagiert, vielmehr hampeln und strampeln, holpern und stolpern, ruckeln und zuckeln sie wie auf- und überdrehte Mechanismen, eine Art fleischgewordenes Reiz- Reaktionsschema mit Aussetzern. Wortsprachlich lautet ein Dialog: „I want to reproduce with you“, kein Problem, denn die männliche Antwort auf den weiblichen Wunsch lautet: „I have a good DNA“.
Im Gestöhn, Geächz und Gekreische schält sich aus Bergen von Bildern und Aktionen die Erkenntnis heraus: Der Mensch ist des Menschen Rammler. Trotz großer darstellerischer Anstrengungen und einiger poetischer Momente – vor allem der zerbrechlichen wie ausdrucksstarken Jule Flierl gedankt – versackt das Stück im spätpubertären Habitus einer auf Protest gebürsteten, übersättigten Männergesellschaft, die sich erinnert: Da war doch noch was? Na klar, bunga, bunga! Der (er)klärende Regen bleibt allerdings aus.
Autor: Leonore Welzin
Bunga bunga
„Platzregen / Eine Entfernung zu Peter Handke“ uraufgeführt im Theaterhaus Stuttgart
Jule Flierl in "Platzregen/ Eine Entfernung zu Peter Handke" . Foto © Schestag
Die jüngste Produktion des gut eingespielten Männertrios − Fabian Chyle (Konzeption und Choreografie), Festivalleiter Hans-Peter Jahn (Konzeption und Dramaturgie) und Bühnenbildner Adrian Silvestri (Bühne, Ausstattung und Grafik) – widmet sich, mit Bezug zu Peter Handkes „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“, dem Platz als öffentlichem Ort. „Platzregen / Eine Entfernung zu Peter Handke“ titelt die Performance, die beim „Eclat“-Festival Neue Musik im Theaterhaus Stuttgart erstmal gezeigt wurde.
Den Soundtrack zur Uraufführung hat Alvaro Carlevaro geliefert. Der Komponist mit uruguayischen Wurzeln hat aus Handkes Text die Adjektive herausgefiltert und im Vokalstück „14 unbemalte Bilder für 28 Stimmen“ zu einem formalästhetischen Klanggewebe verarbeitet, das als musikalische Klammer der Tanzversion dient. Chyle, Jahn und Silvestri, berüchtigt für ausufernde Ideen-Vielfalt, breiten zum Tonbandzuspiel eine Menge Material aus: Eingetopfte Zierbäumchen, ein Bretterverschlag, Riesenventilatoren, hunderte Säcke Blumenerde, eine Plastikpuppe (verkleidet als Doppelgängerin einer Tänzerin), Megafone, mehrere Jalousien (auf einer das Bild des Tahir-Platzes), eine Schubkarre, eine Messlatte, die Kopie einer dieser antiken Skulpturen-Imitate aus dem Gartencenter, sowie Flaggen und Fähnchen unterschiedlichster Länder, Couleurs und Größen.
Als wären es der Gegenstände samt Anspielungen, Ausdeutungen und Symboliken nicht genug, werden noch fünf veritable Fahnenschwenker in den Warenkorb gepackt, die in mittelalterlicher Tracht einmarschieren, einen Kurzauftritt liefern und abtreten. Zudem taucht wiederholt eine stumme Figur in schwarzer Burka auf, die sich (wer hätte es nicht vermutet?!) als Mann entpuppt.
Die sieben Tänzerinnen und Tänzer (Angelina Deck, Jule Flierl, Tereza Lenerova, Claudia Senoner, Anders Kallesoe Jensen, Andre Soares, Karol Tyminski) haben alle Hände voll zu tun. Auf- und überdreht wie Roboter auf Speed wird eine Schubkarre hin- und her gekarrt, am Mast wird masturbiert und die Plastikpuppe wird zum Objekt, an dem sich aggressiver Stau und sexuelles Bedürfnis entladen. Die Plastiksäcke mit Blumenerde werden zu einem großen Feld ausgelegt, darüber wird ein Steg aus Brettern gebaut, auf dem, wie im Film, eine Vergewaltigung gespielt (oder geprobt), abgebrochen und wiederholt wird.
„Ich möchte lieber ahnen statt wissen. Sprache ist ja in aller Regel zerstörerisch. Wenn sie nicht den richtigen Augenblick findet, zerstört sie das Ungesagte.“, so Peter Handke, der mit „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ ein Theaterstück ohne Dialoge geschrieben hat. Hauptakteur des Stücks ist ein Platz, der realen Charakter hat, zugleich aber ein beliebiger Platz irgendwo sein kann. Ein Dutzend stummer Akteure spielen Alltägliches, begegnen einander, helfen sich gegenseitig, behindern sich, schließen sich zu Gruppen zusammen und lösen sie wieder auf. Obwohl sich die Begegnungen intensivieren, hat das Welttheater nicht den Anschein, als würde da ein Volk zusammenwachsen.
"Platzregen/ Eine Entfernung zu Peter Handke" im Theaterhaus Stuttgart. Foto © Sigmund
Während sich die Handlung bei Handke dramaturgisch entwickelt, tritt das Stück „Platzregen“ auf der Stelle. Im Vorfeld zum Festival-Höhepunkt stilisiert, haben sich die drei Musketiere Chyle, Jahn und Silvestri den „Eclat“ auf die Fahne geschrieben und reiten mit wachsender Begeisterung auf der vermeintlich provokativen Antithese zu Handke herum. Ist das Stück bei ihm einzig Regieanweisung, verzichten Chyle, Jahn und Silvestri explizit auf Regie. Konzentriert sich Handke auf den Platz im Allgemeinen, suggeriert die Wahl der Gegenstände einen speziellen Platz. Versucht sich Handke in Reduktion, veranstaltet die Inszenierung eine Materialschlacht. Schließlich wird statt Schweigen den Protagonisten Geschwätzigkeit verordnet. Körpersprachlich wird selten interagiert, vielmehr hampeln und strampeln, holpern und stolpern, ruckeln und zuckeln sie wie auf- und überdrehte Mechanismen, eine Art fleischgewordenes Reiz- Reaktionsschema mit Aussetzern. Wortsprachlich lautet ein Dialog: „I want to reproduce with you“, kein Problem, denn die männliche Antwort auf den weiblichen Wunsch lautet: „I have a good DNA“.
Im Gestöhn, Geächz und Gekreische schält sich aus Bergen von Bildern und Aktionen die Erkenntnis heraus: Der Mensch ist des Menschen Rammler. Trotz großer darstellerischer Anstrengungen und einiger poetischer Momente – vor allem der zerbrechlichen wie ausdrucksstarken Jule Flierl gedankt – versackt das Stück im spätpubertären Habitus einer auf Protest gebürsteten, übersättigten Männergesellschaft, die sich erinnert: Da war doch noch was? Na klar, bunga, bunga! Der (er)klärende Regen bleibt allerdings aus.
Autor: Leonore Welzin
“Platzregen” (Downpour) and the Piano Take Centre Stage – ECLAT 2012 (2/10/2012)
PR/Vaclav Demlinghttp://www.goethe.de/kue/mus/nac/en8827479.htm
----
----
Witzig und komödiantisch
VON KRISTINA WIECHERT
REUTLINGEN/BOUAKE. Leiterin Sonka Müller hatte sowieso nur die
strapazierfähigsten unter ihren Jungschauspielern vom
Teenie-Theater-Treff des Theaters »Patati-Patata« mitgenommen - doch
auch sie bekamen vor dem Flug nach Westafrika schier kalte Füße. »Ich
kann's mir nicht vorstellen- wie soll das denn klappen?«, fragten sie
sich vor ihrem Abflug am 24. Oktober nach Bouaké, Reutlingens ivorischer
Partnerstadt.
Dort sollten sie auf Deutschlehrer Adama Coulibaly samt sieben
Schülerinnen und Schülern vom Lycée Classique et Moderne treffen und
innerhalb von drei Wochen gemeinsam ein Stück erarbeiten. »Aber das
klappte innerhalb von 24 Stunden«, berichtet Jana jetzt beim
Pressetermin begeistert. »Die Ivorer waren so offen!«, zeigt sich auch
Sonka Müller beeindruckt. Mit »Die Stunde da wir nichts voneinander
wussten«, frei nach Handke, war das interkulturelle Theaterprojekt denn
auch überschrieben. Ob Schnee töten kann, wollte ein afrikanischer
Jugendlicher wissen, ein anderer träumte vom Fußball und von Scouts, die
ihn entdecken. Die Deutschen guckten dafür entsetzt aus der Wäsche, als
nach der Aufführung kein langer Schlussapplaus erklang - aber dafür gab
es viel Zwischenapplaus und eine spontane Party. »Auch der höfliche
Umgang ist dort anders«, erzählt Verena, »bei uns zählt Ehrlichkeit zum
Respekt, dort gilt dafür der Respekt vor den Alten viel mehr.«
Aus den Begegnungen der jungen Leute, die sich vorher nur über E-Mails kannten, entwickelte sich ein witziges komödiantisches Stück, das die jugendlichen Schauspieler vor insgesamt knapp 1 000 Zuschauern in vier Aufführungen auf die Bühne brachten (im Schulhof, in der Stadthalle von Bouaké, im Goethe-Institut und in einem katholischen Internat, beide Abidjan).
Als nächstes bereiten sich die sechs vom Teenie-Theater-Treff auf »Afrika oh Afrika - Grenzerfahrungen« vor, mit dem sie am 21. Januar im Kulturzentrum franz.K Premiere feiern. Mit ihrem theatralen Reisebericht über Bouaké bringen die jungen Akteure ihre Erfahrungen in und mit dem schwarzen Kontinent spielerisch auf die Bühne.
Im nächsten Juli möchten Sonka Müller und die jungen Schauspieler die ivorischen Freunde nach Reutlingen einladen. Das jetzige Stück soll dabei übernommen, aber dieses Mal auf den Blickwinkel der afrikanischen Jugendlichen zugeschnitten werden. Schnee und europäische Hektik dürften nicht die einzigen Erscheinungen sein, die die jungen Gäste erschrecken und faszinieren werden - es bleibt also spannend.
Die Schauspieler: Verena Plath, Hannah Levene (beide Isolde-Kurz-Gymnasium, 12. Klasse), Yanick Ettwein, (IKG, 11. Klasse), Jana Schönwetter (Hermann-Hesse-Realschule, 9. Klasse), Laura Kipp (Friedrich-List-Gymnasium, 11. Klasse), Mark Sinzger (Mathematikstudent, Tübingen). (GEA)
www.theaterpatati.de
Aus den Begegnungen der jungen Leute, die sich vorher nur über E-Mails kannten, entwickelte sich ein witziges komödiantisches Stück, das die jugendlichen Schauspieler vor insgesamt knapp 1 000 Zuschauern in vier Aufführungen auf die Bühne brachten (im Schulhof, in der Stadthalle von Bouaké, im Goethe-Institut und in einem katholischen Internat, beide Abidjan).
Als nächstes bereiten sich die sechs vom Teenie-Theater-Treff auf »Afrika oh Afrika - Grenzerfahrungen« vor, mit dem sie am 21. Januar im Kulturzentrum franz.K Premiere feiern. Mit ihrem theatralen Reisebericht über Bouaké bringen die jungen Akteure ihre Erfahrungen in und mit dem schwarzen Kontinent spielerisch auf die Bühne.
Im nächsten Juli möchten Sonka Müller und die jungen Schauspieler die ivorischen Freunde nach Reutlingen einladen. Das jetzige Stück soll dabei übernommen, aber dieses Mal auf den Blickwinkel der afrikanischen Jugendlichen zugeschnitten werden. Schnee und europäische Hektik dürften nicht die einzigen Erscheinungen sein, die die jungen Gäste erschrecken und faszinieren werden - es bleibt also spannend.
Die Schauspieler: Verena Plath, Hannah Levene (beide Isolde-Kurz-Gymnasium, 12. Klasse), Yanick Ettwein, (IKG, 11. Klasse), Jana Schönwetter (Hermann-Hesse-Realschule, 9. Klasse), Laura Kipp (Friedrich-List-Gymnasium, 11. Klasse), Mark Sinzger (Mathematikstudent, Tübingen). (GEA)
www.theaterpatati.de